Fast jede meiner Yogastunde beginnt mit den Worten „Spüre in dich hinein und nimm wahr, wie es dir geht, wie du dich fühlst heute, hier, jetzt, in diesem Moment“. Der Grund dafür ist, dass ich glaube, dass ganz viele von uns ihre tatsächlichen Gefühle und Empfindungen oft gar nicht wahrnehmen. Wir laufen meist auf Autopilot durch den Tag. Manche sogar durch ihr ganzes Leben. Nehmen uns nicht wirklich wahr. Beschäftigen uns nicht mit den Dingen, die in uns abgehen.
Gefühle und Emotionen werden beständig in den Keller der negativen Gefühle gesperrt. Und dann bleiben sie dort. Sodass wir scheinbar Ruhe vor ihnen haben. Doch sie zeigen sich. Auch wenn wir sie ganz tief vergraben haben. Diese Kopfschmerzen, die immer wieder kommen. Scheinbar ohne Ursache. Dieser Reizdarm, der uns das Leben schwer macht. Die Panikattacken, gegen wir wir irgendwelche Tabletten schlucken. Die verletzte Seele, die nicht gesehen wird, bahnt sich ihren Weg, um endlich die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie verdient. Sie nimmt dabei den Umweg über den Körper. In der Hoffnung, dass wir endlich etwas tun, um zu heilen. Wirklich zu heilen. Und nicht weiter zu unterdrücken. Wegzuignorieren. Zu leugnen.
Leider hilft der Umweg über die körperlichen Symptome der Seele auch nicht immer. Es werden Tabletten geschluckt und weiter geht’s. Immer schön lächeln, gute Mine machen, obwohl eigentlich angesagt wäre, zu heulen. „Hilft doch auch nichts!“ , „Indianer kennen keinen Schmerz!“, „Große Mädchen weinen nicht!“. Genau diese (Glaubens)Sätze, die wir seit frühester Kindheit eingeimpft bekommen, sind es, die uns daran hindern, wirklich einmal zu fühlen. Gefühle zuzulassen.
Hinzu kommt, dass es schmerzhaft sein kann, einmal wirklich zu fühlen. Und diesen Schmerz wollen wir natürlich gern umgehen. Aber wäre es nicht besser, einmal durch den Schmerz zu gehen, um dann frei zu sein von allem, was unterdrückte Gefühle mit sich bringen? Wäre es nicht besser, mal so richtig zu spüren, zu weinen, zu heulen, ja vielleicht sogar zu schreien und zu toben, anstatt jahrelang allen negativen Ballast mit sich rumzuschleppen? Ich finde das ist es.
Fühle deine Gefühle! Es wird immer schmerzhaft sein. Ob du es jetzt tust oder erst mit 80 Jahren. Aber es wird dich auch heilen. Es wird dich befreien. Und es wird dich tatsächlich stärker machen. Sodass du vermeintliche Stärke nicht mehr vorgaukeln musst.
Deshalb ermuntere ich meine Yogis*inis in fast jeder Yogastunde, einmal wirklich wahrzunehmen, was ist. Und zu fühlen. Und ich ermuntere jetzt auch dich. Du, der*die das liest. Schließe deine Augen, um deinen Blick nach innen zu öffnen. Komme vom vielbeschäftigten Gehirn in deinen Körper. In dein Herz. Was spürst du? Was ist da? Was ist das erste Gefühl, dass dir in den Sinn kommt? Wo nimmst du es wahr? Wie fühlt es sich an? Was für Assoziationen werden in dir geweckt? Fühle deine verdammten Gefühle! Nicht nur heute. Jeden Tag. Schluss mit „Stark sein.“, “ Ein Lächeln aufsetzen.“, „So tun als ob.“. Fühle und dann heile.
Die Hüftöffner, also Yogaübungen, in denen wir an der Beweglichkeit unserer Hüften arbeiten, sind übrigens “ Fühlbeschleuniger“. Wenn wir uns einer hüftöffnenden Asana richtig hingeben, kann es leicht passieren, dass eigentlich unerwünschte, verdrängte Gefühle ihren Weg in unser Bewusstsein bahnen. Wir nehmen sie plötzlich tatsächlich wahr. Nicht allzu selten kommen dann auch Tränen. Scheinbar aus dem Nichts. Lass das zu! Das darf sein. Das ist Yoga! Es geht nicht darum, sich zu verbiegen und dabei gut auszuschauen. Es geht darum, zu heilen. Innen, wie außen.